Jeden Dienstag treffen sich über Mittag Kunstfans im Kunsthaus Zürich – und kompetente Expertinnen und Experten erläutern die Finessen einzelner Werke.
Der Kurs findet zweimal jährlich statt. Im Frühjahr von März bis Juni, im Herbst von September bis Dezember. Je zwölf Wochen.
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Die Reports auf dieser Seite «Kunst über Mittag» sind keine «offiziellen Bildbesprechungen» der Referent:innen, sondern subjektive persönliche Wiedergaben des Gehörten, Gesehenen und Erlebten durch die Autor:innen von artfritz.ch.
Kunst über Mittag 2025 im Kunsthaus Zürich
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Besprochene Werke 2025 |
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Anna Winteler (1954). Video
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3. Juni 2025, Referentin Maya Karacsony Anna Winteler (1954). Videoperformance. Horizontal Waltz
Anna Winteler kommt 1954 in Lausanne zur Welt und gilt als Pionierin der Schweizer Performance-, Video- und Installationskunst. Sie wächst im Kanton Neuenburg auf und absolviert eine Ausbildung in Musik und Theater in London und Cannes. Von 1974 bis 1977 lässt sie sich in Stuttgart, Berlin und Paris zur klassischen Balletttänzerin ausbilden. An einem Workshop lernt sie den berühmten Choreografen Merce Cunningham kennen. Bei diesem lernt sie den Umgang mit der Videokamera. Ab den 1980er-Jahren gehört sie zum Kreis der wichtigsten Schweizer Video- und Performance-Künstlerinnen (wie Pipilotti Rist, Zilla Leutenegger, Muda Mathis, Marie-José Burki, Silvie Defraoui, Klara Kuchta u.a.)
Das Kunsthaus Zürich verfügt über eine umfangreiche Sammlung von Videokunst. Das besprochene Werk «Horizontal Waltz» stammt aus dem Jahr 1989. Es kam 1992 in die Sammlung des Kunsthauses. Das Video dauert rund zehn Minuten und zeigt die amerikanische Tänzerin Monica Klingler, die sich im schwarzen Trikot auf dem Boden repetitiv hin und zurück rollt, was den Eindruck von Schwerelosigkeit vermitteln soll. Die Aktion erfolgt ohne jegliche Choreographie und wird von einer gleichförmigen, sich ständig wiederholenden Tonfolge begleitet (Musik: Peter Vogel). Aufgenommen wurde die Darbietung im Video-8-Format mit zwei Kameras, je eine in jeder Hand. Sozusagen aus der Hüfte geschossen, ohne den gefilmten Ausschnitt zu kontrollieren. In der Endverarbeitung wurden die beiden Aufnahmen gemischt und übereinander gelegt.
Bekannt für Videoperformances wurde Anna Winteler schon zehn Jahre früher, 1979, mit ihrer Arbeit «Le petit déjeuner sur la route, d'après Manet». Der Bezug zu Manets Gemälde: In diesem sitzt eine nackte Frau mit zwei (bekleideten) Männern im Park. Anna Winteler läuft im Video in ballett-ähnlichen Schritten am Rheinufer entlang und entledigt sich nach und nach ihrer Kleider. Das Originalvideo ist 22 Minuten lang. Der auf www.dotmov gefundene Ausschnitt dauert nur gerade drei Minuten –
Die Videobotschaft «Geriatrie 1A, das Hohelied» von 1991 ist die letzte künstlerische Arbeit von Anna Winteler. Sie bewegt die Kamera während
Mit dieser Videoarbeit beendet Anna Winteler ihre Künstlerkarriere,
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Phyllida Barlow (1944-2023). Street (broken column), 2010.
Phyllida Barlow (1944-2023). Street (broken column), 2010.
Kein Beton, sondern Styropor, Zement, Juteleinen und Kunstharz.
Phyllida Barlow
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27. Mai 2025, Referentin Regula Straumann Phyllida Barlow (1944-2023). Street (broken column), 2010.
Die britische Künstlerin Phyllida Barlow (1944–2023) gilt in der internationalen Kunstwelt als Spätzünderin. Ihren Durchbruch erzielt sie erst nach ihrer Pensionierung als Professorin an der Slade School of Art in London. Ihre Karriere nimmt erst Fahrt auf, als sie von Hans Ulrich Obrist 2010 eingeladen wird, in «seiner» renommierten «Serpentine Gallery» in London auszustellen. Hans Ulrich Obrist ist ein berühmter Schweizer Kurator, Kunstkritiker und Kunsthistoriker. Nach dieser Ausstellung wird Barlow international bekannt und kann 2017 an der Biennale in Venedig Grossbritannien vertreten. Auch in Zürich bestreitet sie 2017 eine Ausstellung unter dem Titel «Demo» (Kunsthalle Zürich).
Für ihre «Verdienste für die Kunst» wird Phyllida Barlow 2021 zur
Wie soll man diese monströse Betonröhre im Chipperfieldbau einordnen? Als Kunstwerk? Was will die Künstlerin damit aussagen? Will sie irritieren, provozieren mit ihrem Billigmaterial, wo sonst in der Kunst Marmor und Bronze verwendet wird? Vielleicht. Wie sehen die KüM-Teilnehmer:innen das Werk? Es fallen Ausdrücke wie Kanalisation, Kinderspielplatz, Trümmer, gestürztes Denkmal, Zerbrechlichkeit. Das Werk wirkt schwer wie Beton, ist es aber nicht – es besteht aus fünfzehn losen Teilen aus Styropor, Zement, Juteleinen und Kunstharz. Man könnte die «broken column» nicht aufstellen, sie wäre nicht standfest genug. Als Kunstwerk im geschützten Museum am Boden zu liegen – das geht.
Die Betrachter sollen sich aktiv im Raum bewegen und einen Dialog mit dem Objekt und dem Raum führen – meint die Künstlerin. Und wie sieht sie selbst ihr Werk? Zu Prinz Charles soll sie gesagt haben: «Ich mache Skulpturen der hässlichen Sorte». Und, an anderer Stelle: «Ich koche so, wie ich Skulpturen mache – schnell und spontan und mit dem, was gerade zur Hand ist.» Und woher holt sie ihre Ideen? Sie sagt das so: «Wenn es mal nicht läuft, steige ich in meinen kleinen Toyota, fahre durch London und schau mir die Welt um mich herum genau an».
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Giuseppe Penone (1947). L'impronta del disegno, 2001. Fondation Hubert Looser, Kunsthaus Zürich.
Detail Fingerprint des Künstlers.
Detail Rahmen:
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20. Mai 2025, Referent Daniel Näf Giuseppe Penone (1947). L'impronta del disegno, 2001.
Penone stammt aus einer Bauernfamilie im Piemont, was seine Affinität für die Natur – und vor allem für Bäume – erklärt. Er lebt und arbeitet heute in Turin und Paris. Man zählt ihn zu den Vertretern der «Arte povera» (=arme Kunst), die ihre Blüte in den 1960er-Jahren hatte.
«Povera» heisst die Kunst, weil hier mit einfachen und alltäglichen Materialien gearbeitet wird, wie Erde, Holz, Steine, Stoffe, Baumrinde, Pflanzen oder Glassplitter. Ziel der Arte Povera ist es, mit verschiedenen Materialien eine Verbindung zwischen Natur und Kunst zu schaffen. Der Begriff Arte Povera wurde 1967 vom italienischen Kunstkritiker und Kurator Germano Celant geprägt. Anlass war eine Arte-Povera-Ausstellung in Genua mit Werken von sechs italienischen Künstlern (Penone gehörte noch nicht dazu). >mehr über Arte Povera
Das besprochene Werk L'impronta del disegno ist Teil einer zentralen Werkreihe, in der Penone das Thema der Impronta (Spur, Fingerabdruck) künstlerisch erforscht. Die Arbeit besteht aus zehn grossformatigen Zeichnungen. Im Zentrum steht jeweils ein Fingerabdruck des Künstlers – im besprochenen Werk ist es der kleine Finger der rechten Hand. Wie hat Penone das Werk gefertigt? Zuerst grundierte er die Leinwand weiss. Dann drückte der Künstler seine eingefärbte Fingerkuppe ins Zentrum der Leinwand und zeichnete mit Bleistift konzentrische Linien rund um diesen Fingerprint – viele, viele feine schwarze Linien.
Die entstehenden Muster erinnern an Jahresringe eines Baumes und sollen so die Verbindung zwischen Mensch (Fingerabdruck) und Natur visualisieren – ein Leitmotiv in Penones Gesamtwerk. Man kann in den konzentrischen Ringen aber auch die Abbildung eines Gewehrlaufs sehen, wie ein KüM-Teilnehmer bemerkt.
Die mit Bleistift gezeichneten Linien weisen einen Abstand von genau einem Millimeter auf, was eine pingelig-genaue Arbeitsweise erforderte. Penone soll für diese Zeichnung über 200 Stunden aufgewendet haben. Was auffällt: Die Grafitstriche sind nicht alle gleich dick. Das bedeutet, dass der Künstler verschieden harte Bleistifte verwendet hat. Insgesamt sind vier verschiedene Härtegrade zu erkennen.
Wie beschreibt Giuseppe Penone sein Werk? Er betont, dass die eigentliche Aussage nicht im Resultat liege, sondern im Entstehungsprozess: Das unendliche, wiederholte Ziehen der Linien mache die Zeit und die Handlung des Zeichnens sichtbar.
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13. Mai 2025, Referentin Gabriele Lutz Rebecca Horn (1944-2024). The Warriors, 2006.
Gemäss Website des Kunsthauses müsste das Werk eigentlich ausgestellt sein – täglich von 11 bis 13 Uhr, bis zum 6. Juni 2025. Heute ist es aber nicht zugänglich und die Lichtinstallation funktioniert auch nicht. Immerhin können wir einen entfernten Blick in den Raum werfen. Wie das Werk richtig beleuchtet aussehen würde, zeigt die Foto des Kunsthauses Zürich.
Was stellt das Werk dar? Es zeigt sechs stehlenartige Figuren, die mit Totenschädeln aus Bronze, Lampen und beweglichen Spiegeln ausgestattet sind. Und warum heisst es «The Warriors»? Die Figuren sollen die Illusion von verstorbenen Kriegern erwecken. Und das gedämpfte Licht soll den Eindruck eines magischen oder sakralen Raums erzeugen, in dem Themen wie Tod, Vergänglichkeit und Spiritualität inszeniert werden.
Könnten die Totenköpfe eine Anspielung auf Capuzzelle sein? In Neapel werden Schädel von Verstorbenen in Katakomben mit Blumen geschmückt und verehrt – als Mittler zwischen den Lebenden und dem Jenseits. Im weiteren hängt an jedem Stativ auch noch ein Säckchen, das Erinnerungen an den Verstorbenen enthalten soll. Zudem ist am Fuss jedes Stativs ein Teller zu sehen. Was diese Teller bedeuten, ist unklar. Vielleicht ein Hinweis: In einer früheren Arbeit verwendete Horn ebenfalls Teller. In diesen offerierte sie den Besuchern Bonbons – gedacht als Performance. In einer weiteren Version von «The Warriors», die 2012 in Maribor gezeigt wurde, sind die Teller durch Schuhe ersetzt. Dazu verfasste Horn dieses Gedicht: «Die Laufenden, in ihrer Einsamkeit Kreisenden, wie im Ankommen Gesehenen, zu jung Geflohenen, im Wind Verstummten». Alles klar?
Wer ist Rebecca Horn? Sie gilt als Pionierin der kinetischen Kunst und der Performancekunst. Sie kommt 1944 in Michelstadt (D) zur Welt und ist vor allem bekannt für ihre Installationen und Performances, die Themen wie Körperlichkeit, Verletzlichkeit, Sexualität, Erinnerung und die Beziehung zwischen Mensch und Maschine behandeln.
Ihre Werke wurden in bedeutenden Museen und Galerien weltweit gezeigt – von Tate Gallery London bis MoMA New York. Sie stellte auch mehrmals in der Dokumenta Kassel aus und gewann 2010 den Preis des japanischen Kaiserhofes, den Praemium Imperiale de Tokio. Der YouTube-Film handelt von diesem Kunstpreis und stellt die Künstlerin näher vor.
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Ellsworth Kelly (1923-2015).
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6. Mai 2025, Referent Daniel Näf Ellsworth Kelly (1923-2015). White Curve, 2003.
Kelly ist ein amerikanischer Maler, Bildhauer und Grafiker, der in Newburg NY zur Welt kommt und mehrheitlich in New York tätig ist. Bekannt ist er für seine minimalistischen und grossformatigen Gemälde und Skulpturen, die durch klare Formen und monochrome Farbflächen geprägt sind.
«White Curve» entsteht 2003. In dieser Phase haben Kellys Werke den traditionellen 90-Grad-Winkel von üblichen Gemälden überwunden und bestehen nun aus freien und teils organischen Formen. Man zählt sie zur Stilrichtung des Hard Edge, der sich in den 1950er-Jahren als eigenständiger Stil etabliert hat. Hard Edge zeichnet sich durch Reduktion auf einfache Formen aus und durch scharfe, klare Kanten (edges). Die Farben werden ohne sichtbare Pinselstriche aufgetragen und sind meist monochrom.
Durch seine klaren, strengen Linien grenzt sich Hard Edge vom abstrakten Expressionismus und von der subjektiven Gestik des Action Painting ab (besprochen am 29. April 2025 am Beispiel von Willem >de Kooning). Weitere Vertreter des Hard Edge sind >Frank Stella, Barnett Newman, Mark Rothko und Ad Reinhardt.
Ort der Handlung: Balkon im Chipperfieldbau, 1. Etage. Wir stehen ganz nah an Kellys Werk «White Cube» – oder besser: fast unter ihm. Aus dieser Perspektive wirkt das Werk verzerrt. Wurde White Curve im Chipperfieldbau des Kunsthauses Zürich richtig» gehängt? Um diese Frage geht es hier. Die Meinungen sind geteilt. Für einige hat man den richtigen Platz gefunden, für andere kommt das Werk nicht genügend zur Geltung in der Enge dieses Korridors, weil man ihm zu nahe steht und es deshalb nur perspektivisch verzerrt sieht. Von der Balkon-Gegenseite aus betrachtet, nimmt es dann seine richtige Form an.
Ein Hard Edge Werk kommt ohne Rahmen aus und ist erst «fertig», wenn es an die Wand gehängt ist. Es sollte aber nicht direkt an die Wand montiert werden, sondern in einem gewissen Abstand. So, dass es seinen Schatten werfen kann, der ein Bestandteil des Werkes ist. Wäre es auch möglich, White Curve vertikal zu hängen? Theoretisch ja, aber das wäre vermutlich nicht im Sinn des Künstlers. Dieser hat zwar keine verbindlichen Vorschriften zur richtigen Hängung gemacht, aber immerhin Empfehlungen dazu abgegeben. An diese halten sich nun Galerien und Museen im Grundsatz. Letztlich entscheidet aber der Markt, heisst: der Besitzer, wie er sein Kunstwerk anbringen und betrachten will.
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Willem de Kooning (1904-1997). Untitled IX, 1977. Fondation Hubert Looser, Kunsthaus Zürich.
Detail.
Willem de Kooning (1904-1997). Untitled XI, 1982. Fondation Hubert Looser, Kunsthaus Zürich.
Jackson Pollock (1912-1956). Number 21, 1951. Kunsthaus Zürich.
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29. April 2025, Referent Reto Bonifazi Willem de Kooning (1904-1997). Untitled IX, 1977.
Der abstrakte Expressionismus hat seinen Ursprung in den USA. Er entstand in den 1950er-Jahren mit dem Ziel, die europäische Avantgarde abzulösen, die noch geometrische Formen mit teils figurativen Elementen aufwies. Der Amerikaner >Jackson Pollock und Willem de Kooning (ein niederländischer Maler, der ab 1926 in New York tätig war) wollten einen Schritt weiter gehen und setzten auf das Action Painting.
Unter Action Painting versteht man eine Kunstform, bei der die Gestik des Malers eine wichtige Rolle spielt. Pollock legte die Leinwand auf den Boden und liess die Farbe direkt aus dem Farbkübel auf die Leinwand fliessen – unter Einbezug seiner Gestik, seiner Körperbewegungen und einem Energiefluss, der seinem jeweiligen Gemütszustand entsprach. Er nannte dieses Drip-Painting auch «geistige Malerei» und das so entstehende Bild «körpergelenkten Zufall». Pollocks Gemälde Number 21 von 1951 besteht aus nur schwarzer Farbe. Dass es kein «Zufallsbild» ist, sondern eine «vom Künstler gelenkte» Komposition, erkennt man nur schon an den Rändern: Pollock lässt es nicht zu, dass das Gemälde ausfranst, sondern er steuert seine Gestik so, dass eine Art «Rahmen» um das Bild entsteht.
Ob die Leinwand des besprochenen Gemäldes von de Kooning auch auf dem Boden liegend bespielt wurde, ist nicht bekannt. Im Gegensatz zu Pollocks Werk sind bei de Kooning die Pinselstriche gut zu erkennen. Das muss aber nicht heissen, dass es klassisch gemalt wurde, es könnte ebenso gut in der Drip-Painting-Technik entstanden sein: de Kooning hätte die Farbe wie Pollock drippen und sie hinterher mit verschiedenen Pinseln bearbeiten können.
Das Bild «Untitled IX» aus dem Jahr 1977 strahlt eine ungeheure Kraft und Energie aus. Als ob etwas aus dem Inneren des Künstlers «raus» müsste. Um zu verstehen, was in seinem Inneren vorging, muss man sich bewusst sein, dass de Kooning in dieser Phase der 1970er-Jahre bereits schwer alkoholkrank war. Das macht es dem Betrachter unmöglich, sich in seinen Gemütszustand zu versetzen. Viele seiner Werke aus dieser Epoche zeichnen sich durch explosiv-wirre Formen und Farben aus.
Das Gemälde Untitled XI von 1982 zeigt sich deutlich weniger explosiv, nicht mehr so wild. Es weist angenehme Rundungen und weniger expressive Farben auf, es wirkt ruhig, fast lyrisch. Man könnte es für eine reduzierte Version des Werkes von 1977 halten. Gut möglich, dass diese Reduktion etwas mit einer abflachenden Gehirntätigkeit des Künstlers zu tun hat, denn seit Anfang der 1980er-Jahre verschlimmerte sich seine Alzheimerkrankheit mehr und mehr.
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Laurence Neter (1600/04-1652). Interieur mit Lautenspieler, 1631. Kunsthaus Zürich.
Porträt?
Detail Strümpfe.
Detail Karafe.
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22. April 2025, Referentin Andrea Sterczer Laurence Neter (1600/04-1652). Interieur mit Lautenspieler, 1631.
Die Referentin weist darauf hin, dass der Autor des besprochenen Werkes in der Kunsthistorie keine grosse Bedeutung hat. Das zeigt auch die Tatsache, dass über den Künstler nur ganz wenig bekannt ist.
Möglicherweise war Laurence (oder Laurentius) Neter in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der niederländischen Stadt Middelburg, Provinz Zeeland, als Landschaftsmaler tätig (Quelle: Alte Pinakothek München). Neter könnte aber auch ein Maler deutschen Ursprungs sein, der zwischen 1600 und 1604 in Danzig (damals Ostpreussen) geboren wurde und dort 1652 auch gestorben ist.
Das Bild zeigt einen vornehm gekleideten Herrn mit Schnauz und Kinnbart. Er trägt einen eleganten Hut und ein reich verziertes Hosenkleid mit einer pompon-ähnlichen Deko, dazu silbern glänzende Strümpfe und modische Schuhe. Sein Oberhemd schimmert wie eine Rüstung silbern und ist am Kragen mit Spitzen verziert, die Ärmel sind mit wertvollen Silber- und Goldgarnen verziert.
Zum Raum gehört ein Tisch mit reich besticktem Tischtuch, auf dem der Künstler ein Stillleben arrangiert hat: eine (Wein?)Karafe, ein Kristallglas, ein Tuch, ein aufgeschlagenes Buch. Kunsthandwerklich ist dieses Stillleben kein grosser Wurf, auch mit der Darstellung der Perspektive scheint der Künstler seine liebe Mühe gehabt zu haben, was auch beim Stuhl zum Ausdruck kommt.
Dass der Mann allein in einem Raum sitzt, ist ungewöhnlich. Bei vielen ähnlichen Gemälden niederländischer Künstler sind bei Musikdarbietungen normalerweise mehrere Personen in Gruppen versammelt. Bei solchen musikbezogenen Werken stellt sich immer auch die unterschwellige Frage, ob es sich beim Etablissement um ein Bordell handeln könnte.
Könnte das beim besprochenen Bild auch der Fall sein? Eher nicht. Dafür ist der Raum mit zu wenig Eleganz ausgestattet. Und wird da überhaupt musiziert? Auf den ersten Blick scheint der Mann zwar Laute zu spielen. Bei genauerer Betrachtung muss man aber feststellen, dass er nur so tut, als würde er spielen. Vielmehr scheint der fein herausgeputzte Musikant vor dem Maler zu posieren, er blickt diesen direkt an.
Könnte man daraus schliessen, dass es sich um ein Porträt handelt? Vielleicht. Möglich wäre aber auch, dass der Herr im Begriff ist, einen Besucher oder eine Besucherin zu empfangen, weshalb er sich auch fein gemacht hat. Und vielleicht empfängt er dann seine Angebetete mit zarten Lautenklängen. Alles ist möglich, die Gedanken sind frei. |
Angelica Kauffmann (1741-1807). Amor und Psyche, 1792. Kunsthaus Zürich.Detail: Amor trocknet Psyches Tränen mit seinen Locken.
Heinrich Füssli (1741-1825). Amor und Psyche, 1810. Kunsthaus Zürich.
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15. April 2025, Referentin Gabriele Lutz Angelica Kauffmann (1741-1807). Amor und Psyche, 1792.
Die 1741 in Chur geborene Künstlerin macht eine aussergewöhnliche Karriere und schafft es sogar, im Alter von 27 Jahren Mitglied der Royal Academy in London zu werden – als eine von zwei Frauen unter 32 männlichen Künstlern. Einen grossen Namen macht sie sich vor allem mit hoch geschätzten Porträts von europäischen Aristokraten. Mit diesen verdient sie gutes Geld, aber ihr Ziel ist es, Historienmalerin zu werden. Das schafft sie später in Rom, wo sie in einem grossen Atelier in einem Palazzo arbeitet, das die Fertigung von monumentalen Gemälden erlaubt. Das besprochene Bild «Amor und Psyche» von 1792 bezeichnet die Künstlerin als ihr «liebstes» unter fünfzehn Historienbildern, die sie in ihrer Spätphase geschaffen hat.
Das Gemälde war eine Auftragsarbeit für die Gräfin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach – doch diese holte das Bild nie ab. Es ging deshalb später an die Gräfin Louise von Anhalt-Dessau, die im Schloss Luisium in Dessau wohnte. Von ihr malte Kauffmann auch ein Porträt.
Basis für dieses Gemälde ist das mythologische Märchen «Amor und Psyche» aus den Metamorphosen des Apuleius aus dem 2. Jahrhundert vor Christus. >mehr über Amor und Psyche
Das Bild beschreibt den Moment, als Psyche unerlaubterweise ein Kästchen mit einer Schönheitssalbe öffnet, das für Venus bestimmt gewesen wäre. Psyche fällt deshalb in einen «todesähnlichen Schlaf». Angelica Kauffmann mochte das nicht so dramatisch sehen und malte Psyche bloss weinend, sodass Amor ihr mit seinen Locken die Tränen trocknen und sie trösten kann. Damit entsprach die Künstlerin dem damaligen Zeitgeist, der Empfindsamkeit einem heroischen Klassizismus vorzog.
Zum Vergleich das Gemälde von >Heinrich Füssli von 1810: Füssli – der im gleichen Jahr geboren ist wie Kauffmann, 1741 – hielt sich genauer an den originalen Text Apuleius' und malte den todesähnlichen Schlaf der Psyche höchst dramatisch. |
Franz Marc (1880-1916). Wald mit Eichhörnchen, 1913. Kunsthaus Zürich.
Detail Eichhörnchen.
Detail Wald.
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8. April 2025, Referentin Regula Straumann Franz Marc (1880-1916). Wald mit Eichhörnchen, 1913.
Der für seine expressiven Tierbilder bekannte Künstler kommt 1880 in München zur Welt. Dort besucht er ab 1900 die Kunstakademie. Seine frühen Arbeiten entstehen deshalb in akademisch geprägtem Stil. In Paris kommt er dann mit avangardistischen Werken von Gauguin und van Gogh in Kontakt und beschliesst, den akademisch-konservativen Stil zu verlassen. Er sucht seinen eigenen Stil: expressiv mit starken Farben, nicht mehr der Natur entsprechend, aber trotzdem nicht ganz abstrakt, Figuren sollen weiter erkennbar sein. Bei Franz Marc sind die Figuren meistens Tiere – zu diesen hat er eine besondere Affinität. Berühmt sind seine expressiven Tierbilder mit blauen Pferden und gelben Kühen.
Die verwendeten Farben müssen bei Marc nicht der Natur entsprechen, er malt nach seiner eigenen Farbsymbolik. Diese beschreibt er 1910 in einem Brief an seinen Malerfreund >August Macke so:
Blau ist das männliche Prinzip – herb, geistig und ruhig. Es symbolisiert das Geistige und Nachdenkliche. Gelb ist das weibliche Prinzip – sanft, heiter und sinnlich. Es steht für Lebensfreude und Energie. Rot steht für Materie – brutal, schwer und aggressiv. Rot wird von Blau und Gelb bekämpft und überwunden, da es die rohe Natur und Gewalt repräsentiert.
Und wie sieht er die Tiere und die Natur? In einem Brief von 1915 schreibt er mitten im Kriegsdienst an seine Frau Maria: «Sehr früh fand ich die Menschen hässlich; Tiere schienen mir schöner, reiner. Aber dann entdeckte ich auch an ihnen so viel Hässliches und Gefühlsloses (...) Bäume, Blumen, die Erde zeigten mir mit jedem Jahr mehr hässliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst jetzt plötzlich die Hässlichkeit der Natur, ihre Unreinheit voll zum Bewusstsein kam.»
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Helen Dahm (1878-1968). Selbstbildnis, 1953. Kunsthaus Zürich.
Föhntag in Oetwil
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1. April 2025, Referentin Maya Karacsony Helen Dahm (1878-1968). Selbstbildnis, 1953.
Die «verkannte Expressionistin der Schweiz» wird sie auch genannt. Das besprochene expressionistische Selbstporträt von 1953 zeigt die Künstlerin im Alter von 75 Jahren. Das 3/4-Porträt beeindruckt durch seine eigenwillige Farbgebung und den pastösen Farbauftrag in der Augenpartie. Von Helen Dahm gibt es überdurchschnittlich viele Selbstbildnisse.
Helen Dahm kommt in Engelshofen/Kreuzlingen zur Welt. Ihre Mutter führt in Zürich eine kleine Familienpension und Helen muss hier mitarbeiten – bis sie fast dreissig ist. 1906 hat sie genug davon, denn eigentlich möchte sie Künstlerin werden. Sie verlässt die Familie und zieht nach München, wo sie in den Künstlerkreis des >Blauen Reiters gelangt. Hier befasst sie sich mit dem Holzschnitt und malt erste expressionistische Bilder. Von 1913 bis 1918 lebt sie in Zürich mit der Kunsthistorikerin Else Strantz zusammen, was in Bürgerkreisen für Irritationen sorgt. Dahm kann zwar in dieser Phase künstlerisch tätig sein und malen, aber ihren Lebensunterhalt bestreitet sie mit dem Verkauf von selbstgefertigten Stoffen.
1919 ziehen die zwei Frauen in ein Bauernhaus in Oetwil am See. Hier kann sich Dahm nun ganz der Malerei widmen. Allerdings fällt sie in eine Krise, als sie 1932 von ihrer Partnerin verlassen wird. In der bäuerlichen Umgebung malt sie jetzt vorwiegend Landschaften.
1938 – da ist sie schon 60 Jahre alt – verkauft sie ihr Haus und zieht nach Indien auf der Suche nach einem spirituell erfüllten Leben. Sie schliesst sich dem >Guru Meher Baba an, erkrankt aber bereits 1939 an Ruhr und kehrt in die Schweiz zurück. Dennoch sagt sie: «Dieses eine Jahr ersetzte mir zwanzig Jahre Oetwil. In Indien bin ich ein anderer Mensch geworden». In Indien hinterlässt sie Wandmalereien für Meher Babas Grabmal, die sich bis heute erhalten haben.
Nach ihrer Rückkehr aus Indien bekommt sie moralische und finanzielle Unterstützung durch ihren Freundeskreis – aber noch immer keine echte Anerkennung als Künstlerin – es scheint einfach keinen Markt für ihre Bilder zu geben. Eine Würdigung erfährt sie erst 1953, als sie im Helmhaus Zürich eine umfassende Retrospektive bekommt. Das ist ihr Durchbruch. 1954 verleiht ihr die Stadt sogar den Zürcher Kunstpreis – als erster Frau überhaupt. Sie ist inzwischen 76 Jahre alt.
1956 kann sie noch einen Erfolg verbuchen: Sie erhält einen Auftrag für die Aussengestaltung der >Friedhofskapelle Adliswil. 1968 bereitet ihr das Dorf Oetwil ein Fest zu ihrem 90. Geburtstag – kurz danach stirbt Helen Dahm. Ihr letzter Wunsch (als Anweisung an ihren Arzt): «Legen sie meinen Hammer zu meiner Rechten, die Beisszange zu meiner Linken in den Sarg. Denken Sie was sie wollen, aber tun Sie es».
>mehr über Helen Dahm (Ausstellung Museum Thurgau 2018/19)
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Simon Pietersz Verelst (1644-1721). Stillleben
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25. März 2025, Referentin Andrea Sterczer Simon Pietersz Verelst (1644-1721).
Verelst wurde 1644 in Den Haag in eine Künstlerfamilie geboren – es war die Zeit des >Golden Age in den Niederlanden. Sein Vater hiess Pieter Harmensz Verelst (1618-1678), der für seine Genre-Malerei bekannt war. Er unterrichtete auch seinen Sohn Simon. Dieser machte sich einen Namen als Maler von Blumen-Stillleben; er malte aber auch elegante Porträts von Mitgliedern des englischen Königshofs und von Adligen. 1668 zog er nach London und erhielt dort Aufträge vom Hof. König zu jener Zeit war Charles II. aus dem Hause Stuart. Mit seinen Auftraggebern gab es Probleme. Diese warfen ihm Arroganz vor, weil er sich als «Gott der Blumen» aufspielte. Infolge seiner Anfälle ungezügelter Aggression soll er sogar eingesperrt worden sein. Er soll psychische Probleme gehabt haben – es ist aber unsicher, ob er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Auch unter welchen Umständen er 1721 starb, ist nicht bekannt.
Die niederländische Kunst des Blumenstilllebens entwickelte sich in drei Phasen. In der frühen Phase (ca. 1600-1630) waren die Stillleben relativ schlicht, dafür aber sehr naturgetreu. In der Klassischen Phase (ca. 1630-1680) wurden Kompositionen mit überquellenden assymetrischen Arrangements geschaffen. In der Spätphase (ca. 1680-1750) wurden die Darstellungen immer raffinierter und dekorativer, im Stil des Barocks.
Typisch für die niederländische Blumenmalerei waren kleine Vasen mit extrem üppigen Blumenarrangements vor meist dunklem Hintergrund – wie das besprochene Bild von Verelst. Speziell bei diesem ist aber, dass es im unteren Sechstel Elemente der Genre-Malerei aufweist: Putten, die Blumen arrangieren. Es besteht die Vermutung, dass sich der Künstler von seinem Vater dazu inspirieren liess – dieser war ja ein Genre-Maler.
Das Gemälde – aufgebaut als Dreieck mit einer Blüte an der Spitze – ist keine Momentaufnahme eines Blumenarrangements, sondern eine Komposition, die schrittweise mit frischen Blumen im Atelier erstellt wurde. So, wie sich dieses Bild zeigt, hat es der Künstler also nie gesehen.
Typisch für niederländische Blumen-Stills ist auch, dass die >Vanitas mit eingebaut wird. Die Bilder sollen daran erinnern, dass alles Weltliche vergänglich ist angesichts der Unausweichlichkeit des Todes – also auch das Aussehen. Der Künstler stellt diese Vergänglichkeit mit welken Blättern und mit verfaulenden Früchten dar. Das Gemälde soll aber auch das Leben abbilden und die Hoffnung auf ein Weiterleben der Seele nach dem Tod. Diese Hoffnung drückt Verelst mit dem Schmetterling aus, der als Symbol der Seele gilt.
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Wassily Kandinsky
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18. März 2025, Referent Reto Bonifazi Wassily Kandinsky (1866-1944). Frühe Landschaften um 1908.
Der 1866 in Moskau geborene Künstler zieht 1896 mit seiner Ehefrau Anja Semjakina nach München. 1902 lernt er in einem Malkurs in Kochel >Gabriele Münter kennen. Ab 1904 reisen die beiden gemeinsam durch Europa und Nordafrika. 1908 lassen sie sich im bayrischen Murnau nieder, wo sie ein anderes berühmtes Künstlerpaar kennen lernen: Marianne von >Werefkin und Alexej >Jawlensky.
Die Zeit in Murnau ist für Kandinsky eine wichtige Phase. Hier stellt er die Weichen zu seinen später berühmten abstrakten Werken. Um zu diesen zu gelangen, muss er zunächst seine Landschaftsmalerei neu überdenken – sie soll von seinem persönlichen Inneren durchdrungen sein. Die Natur soll nicht mehr nur abgebildet werden, sondern durch neue Farben und Formen so dargestellt werden, dass sie seiner Seele entspricht.
In gewisser Weise haben das die Fauvisten schon ein paar Jahre früher getan, ab 1905. Als «Vorbild» sieht Kandinsky >Henri Matisse, über den er sagt: «Nur Matisse hat die Grenze der zufälligen Naturform überschritten».
Damit meint Kandinsky: Andere Fauvisten verwenden zwar auch «fremde» (=falsche) Farben, aber nur Matisse verändert auch die Abbildung des Gegenständlichen. Als Beispiel dafür kann das Gemälde von Henri Matisse «Intérieur à Collioure» (1905) dienen: In diesem verändert er nicht nur die natürlichen Farben, sondern löst sich auch von der realen Abbildung der Gegenstände und stellt sie so dar, wie er sie mit seinem inneren Auge sieht. Auch um die richtige Perspektive foutiert sich der Künstler.
Im Gegensatz dazu hält sich ein anderer Fauvist, >André Derain, in seinem Bild «Bâteaux dans le Port de Collioure» noch an das althergebrachte Muster der perspektivischen Darstellung. Neu bei Derain sind eigentlich nur die Farben: ein gelb-grüner Himmel, ein roter Sandstrand etc.
Mit dem Landschaftsbild «Murnau, Kohlgruberstrasse» von 1908 löst sich auch Kandinsky von der natürlichen Abbildung, und zwar nicht nur in der Form, sondern auch in den Farben. Die Bäume sind stark reduziert und der Weg im Zentrum besteht aus einer ganzen Palette von Farben, die mit der Natur nichts gemein haben. Vielleicht bilden diese Farben das innere Empfinden des Künstlers ab. Oder seine Seele.
Im expressionistischen Bild von Murnau könnte man durchaus einen Vorläufer des rund zwei Jahre später (1910) entstandenen Gemäldes «Zwei Reiter und liegende Person» sehen. Es geht einen bedeutenden Schritt weiter in Richtung Abstraktion. Sind da noch figürliche Elemente zu erkennen? Ja, allenfalls nachdem man den Titel des Werkes zur Kenntnis genommen hat. Mit der nötigen Fantasie findet man die liegende Person und vielleicht auch einen Reiter. Was anderseits bedeutet, dass der Weg in die Abstraktion noch nicht abgeschlossen ist.
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