Ausstellung «Reflexionen aus dem beständigen Leben» Niklaus Stoecklin, Liselotte Moser, Louisa Gagliardi

Kunst Museum Winterthur Reinhart, 4.10.25-8.2.2026

 

Niklaus Stoecklin, Liselotte Moser
– zwei neusachliche Schweizer


 

Niklaus Stoecklin (1896-1982).

Selbstbildnis, 1918.

 

Liselotte Moser (1906-1983).

Selbstporträt, 1930.

 

 

Stillleben der Neuen Sachlichkeit


Nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) wandten sich viele Künstler vom Expressionismus ab – und nahmen sich wieder traditionellen Bildgattungen wie Stillleben und Porträts an – in neusachlichem Stil. Das Stillleben bot sich dabei besonders an, weil es die Möglichkeit eröffnete, Dinge so zu zeigen, «wie sie sind». Ohne Verfremdung, ohne Pathos und in präziser, nüchterner Darstellung. Sachlich eben. Neusachlich.


Im neusachlichen Stillleben wurden nun auch alltägliche Dinge «abbildungswürdig». Von Glühbirnen bis Küchengeschirr, Gebrauchsgegenstände jeder Art. Diese traten nun an die Stelle klassischer Still-Motive wie Blumenvasen und Früchten. In den «Dingen» spiegelte sich die moderne, industrielle Welt jener Epoche.


Neusachliche Künstler malten Stillleben nicht als blosse Nachahmung der Wirklichkeit, sondern auch als Studien von Oberfläche, Struktur und Licht. Die Dinge erscheinen jetzt klar, präzis, fast überdeutlich, denn in der Neuen Sachlichkeit steckt auch der Wunsch nach Ordnung und Klarheit.

 

 

Niklaus Stoecklin (1896-1982).
Das Schuhholz, 1930. Sammlung

Kunstkredit Basel-Stadt.

 

Niklaus Stoecklin (1896-1982).
Brünnlein im Atelier, 1918. Museum
zu Allerheiligen Schaffhausen.

 

 

Liselotte Moser (1906-1983).

Teekanne, 1967. Nidwaldner

Museum Stans.

 

 

Liselotte Moser (1906-1983).
Stillleben mit Schachteln, 1960.

Nidwaldner Museum Stans.

 

 

Louisa Gagliardi (1989). Aphrodisiacs,

2025. Gelmedium, Nagellack, Tinte

auf PVC. Courtesy the artist and

Galerie Eva Presenhuber, Zürich/Wien.

 

 

 

 

Wieso die Ausstellung nicht unter einem griffigen (und marketing-wirksamen) Titel wie zum Beispiel «100 Jahre Neue Sachlichkeit» oder so läuft, verstehen nur Insider. Stattdessen nennt sie sich kryptisch «Reflexionen aus dem beständigen Leben». Wieso das?

 

Der Titel bezieht sich auf >Theodor W. Adornos Schrift «Minima Moralia», die im Untertitel «Reflexionen aus dem beschädigten Leben» heisst. In Winterthur nun also die Wandlung vom «beschädigten» Leben zum «beständigen» Leben. Alles klar?

 

Damit ist aber noch immer kein Bezug zur Neuen Sachlichkeit hergestellt, deshalb braucht es noch einen Umweg – zu Adornos berühmtem Satz «Es gibt kein richtiges Leben im falschen». Dieser Satz stammt aus einem Text über Möbel und Alltagsgegenstände und so ergibt sich endlich ein Bezug auf die Künstler der Neuen Sachlichkeit – die ja diese Dinge als Stillleben malen.

 

Ufff. Auf eine solch verworrene Konstruktion muss man erst mal kommen. Und in Sachen Literatur sattelfest sein – und geschulter als im Metier Marketing. Es wäre spannend zu wissen, wieviele Besucher dieses doppelt verschlungene Titelkonstrukt begriffen haben.

 

>Wer ist Adorno? (PDF)

 

 

Titelbild (Ausschnitt)
Niklaus Stoecklin (1896-1982).

Vorstellung, 1920-21.
Kunst Museum Winterthur.

 

 

 

Künstler der Neuen Sachlichkeit

 

>Christian Schad

>Otto Dix

>Max Beckmann

>Adolf Dietrich

>Niklaus Stoecklin

>Liselotte Moser

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

100 Jahre Neue Sachlichkeit

 

Der Begriff «Neue Sachlichkeit» entstand kurz nach dem Ende des
Ersten Weltkriegs (1914-1918) und wurde 1925 geprägt, als eine Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim unter diesem Titel stattfand.

 

Wieder einmal hatten Künstler nach einem neuen Stil gesucht.

Die Neue Sachlichkeit sollte sich vom Expressionismus abgrenzen

und wieder vermehrt eine erkennbare und realistische

Darstellung von Menschen und Dingen zeigen.

 

 

 

Otto Dix (1891-1969). Der Krieg. Mittelteil eines Triptychons, 1929-1932. Albertinum Dresden.

 

Niklaus Stoecklin (1896-1982). Gliederpuppe, 1930. Privat.

 

Max Beckmann (1884-1950). Versuchung des Heiligen Antonius, 1936-37. Pinakothek der Moderne München.

 

 

Drei verschiedene Strömungen

 

Die Neue Sachlichkeit lässt sich grob gegliedert diesen drei Flügeln zuordnen:

 

 

1. Der gesellschaftskritische Flügel Hauptmerkmale dieser auch «veristisch» genannten Richtung sind realistische, oft provokant-groteske Darstellungen sozialer und politischer Missstände, häufig verbunden mit Gesellschaftskritik. Zu diesem sind etwa >Otto Dix und George Grosz zu zählen, teilweise auch >Max Beckmann.

 


2. Der klassizistisch-konservative Flügel

Dieser zeichnet sich durch eine klare, ruhige Gegenständlichkeit aus. Zu den wichtigsten Künstlern dieses Flügels gehören Georg Schrimpf, Alexander Kanoldt und >Christian Schad.

 


3. Der magische Realismus

Diese dritte Strömung verbindet surrealistische und fantastische Elemente in realistischer Darstellung, meist detailgenau, «sachlich» ausgeführt. Der Begriff wurde 1925 vom Kunsthistoriker Franz Roh geprägt. Niklaus Stoecklin gehört zu den Vertretern dieses Stils, auch >Max Beckmann wird manchmal zu den «magischen Realisten» der Neuen Sachlichkeit gezählt.

 

 

 

>Otto Dix und die Neue Sachlichkeit

 

>Adolf Dietrich, der Vorreiter?

 

>Was ist Visionäre Sachlichkeit?

 

 

 

Ausstellung Kunst Museum Winterthur Reinhart, 2025/26

 

Niklaus Stoecklin (1896-1982).
Casa rossa, 1917. Privatsammlung.

 

Niklaus Stoecklin (1896-1982). Vorstellung, 1920-21. Kunst Museum Winterthur.

 

Niklaus Stoecklin (1896-1982). Mauerstrasse, 1935. Kunst Museum Winterthur.

 

Niklaus Stoecklin (1896-1982). Wandbild am Münsterplatz Basel. Foto EinDao, Wiki Commons 4.0.

 

 

 

 

Niklaus Stoecklin (1896-1982)

 

Welche Rolle spielt der Basler Künstler in der
Neuen Sachlichkeit?
Er gilt als Vertreter und Mitbegründer des so genannten «magischen Realismus» und war der einzige Schweizer, der an der berühmten Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim teilnahm, wo 1925 die «Neue Sachlichkeit» begründet wurde.

 

Stoecklin wuchs in Basel auf. Bei seinem Onkel Heinrich Müller (1885-1960, Maler und Grafiker) fand er den Einstieg in die Kunst. Ab 1914 studierte er an der Kunstgewerbeschule München. Während seines Aktivdienstes im Ersten Weltkrieg im Tessin schuf er seine ersten Werke, darunter das bekannteste Werk, die Casa Rossa von 1917.


1918 war er zusammen mit Fritz Baumann ein Mitbegründer der progressiven Künstlergruppe «Das Neue Leben», die für expressionistische, kubistische, futuristische, dadaistische und neusachliche Kunst stand. Zur Gruppe zählten Künstler:innen wie Hans Arp, Sophie Taeuber, Alice Bailly und Augusto Giacometti. Die Bewegung löste sich zwar nach zwei Jahren wieder auf, hatte aber grossen Einfluss auf die moderne Kunst in der Schweiz. Zudem förderte sie Frauen in der Kunst und betonte die Gleichwertigkeit von Kunst und Kunsthandwerk.


Zu Stoecklins bevorzugten Genres zählen Stillleben, Porträts und Stadtlandschaften. Er machte sich auch einen Namen als Plakatgestalter.

 

In Basel malte er 1919/20 beim Zivilstandsamt am Münsterplatz ein Wandbild mit Liebespaaren. Diese werden links flankiert von Lucretia, einer Symbolfigur für eheliche Treue, rechts aussen von ihrem Gatten.


1927 hatte Stoecklin seine erste Einzelausstellung im Kunst Museum Winterthur. Heute sind seine Werke in vielen Schweizer Museen zu sehen – und ebenso im Museum of Modern Art in New York. Er zählt auch international zu den wichtigsten Vertretern der Neuen Sachlichkeit. Niklaus Stoecklin starb 1982 im Alter von 86 Jahren in Basel.

 

 

>Fotogalerie

 

 

 

Liselotte Moser (1906-1983). Selbstporträt, 1935. Nidwaldner Museum Stans.

 

Selbstporträt, 1947. Nidwaldner Museum Stans.

 

Ohne Titel (Palmer Av. im Winter), 1936. Nidwaldner Museum Stans.

 

Ohne Titel (Palmer Av. im Frühling), 19366. Nidwaldner Museum Stans.

 

 

 

 

Liselotte Moser (1906-1983)

 

An der Gründungs-Ausstellung von 1925, als die Neue Sachlichkeit ins Leben gerufen wurde, durfte sie nicht teilnehmen. Da waren nur Männer geladen.

 

Liselotte Moser wurde 1906 in Luzern in eine wohlhabende Familie geboren. Mit fünf Jahren erkrankte sie an Kinderlähmung. Sie war fortan in ihrer Mobilität eingeschränkt und für ihr ganzes Leben auf einen Gehstock angewiesen. 1922-24 studierte sie Malerei in Wien, anschliessend besuchte sie in Bern die Malschule von >Victor Surbek.

 

Gerade mal 20 Jahre alt, wanderte sie 1927 mit ihrer Mutter nach Detroit in die USA aus. Dort studierte sie an der Art School of Detroit und fand Zugang zur amerikanischen Kunstszene. Sie entwickelte ihren eigenen Malstil, der von der Neuen Sachlichkeit und dem Amerikanischen Realismus beeinflusst war. Dafür erhielt sie Anerkennung, nahm an zahlreichen Ausstellungen teil und gewann sogar Preise. 1964 bot ihr das Kunstmuseum Detroit eine grosse Einzel-Ausstellung mit über hundert Gemälden, Stickereien und Grafiken.

 

Einen besonderen Stellenwert nehmen ihre vielen Selbstporträts und Stillleben ein. Dazu kommen Stadtlandschaften, die sie aus ihrem eigenen Blickwinkel aus malte – meist von ihrem Fenster, bedingt durch ihre eingeschränkte Mobilität.


Nach dem Tod ihrer Mutter kehrte Liselotte Moser 1965 in die Schweiz zurück, wo sie in Stans lebte und arbeitete. Auch hier malte sie vor allem Ansichten aus ihrem Fenster wie Pilatus, Stanserhorn und die Stadt Stans.


In den USA war sie mit ihren Gemälden durchaus erfolgreich, aber in der Schweiz lange kaum bekannt. Sie starb 1983 in Stans. Erst weit nach ihrem Tod entdeckte man ihr Werk wieder. 2022 bekam sie eine grosse Ausstellung im Nidwaldner Museum. Der Gemeinde Stans hatte sie fast 300 Werke vermacht, die sich als Dauerleihgaben im Nidwaldner Museum in Stans befinden.


 

>Fotogalerie

 

 

Louisa Gagliardi (1989). Selfportrait, 2025. Gelmedium, Nagellack, Tinte auf PVC. Courtesy the artist and Galerie Eva Presenhuber Zürich_Wien

 

Detail. Selfie im Lavabo.

 

Louisa Gagliardi (1989). Back and Forth 1, 2024. Tinte auf Aluspiegel, Dibond. Privatsammlung.
 

Louisa Gagliardi (1989). Like one of your French girls, 2023. Galerie Eva Presenhuber Zürich/Wien.

 

 

 

 

Louisa Gagliardi (1989)

 

Zur Neuen Sachlichkeit hat die in Zürich lebende Walliserin keine konktrete Beziehung. Sie geht einen komplett neuen Weg, der sehr technikbezogen ist.

 

Ihre Werke durchlaufen einen langen und komplexen Arbeitsprozess: Zuerst scannt sie ihre Skizzen, zeichnet sie digital nach, erstellt dann mit Photoshop ein Bild, druckt es auf PVC oder Plexiglas und veredelt es mit Gel, Glitter, Lack und anderen analogen Materialen. Dadurch entstehen Bilder wie Collagen, die man so noch nie gesehen hat.

 

Eindrücklich ist das in der Ausstellung gezeigte Selfportrait. Ihr Abbild erscheint doppelt: Einmal von Seifenschaum umgeben im Lavabo und dann als Spiegelung in der Armatur. Die auf dem Rand des Lavabos «platzierten» Gegenstände wirken wie abgelegte 3D-Dinge.

 

In ihren Spielereien mit Spiegeln (Back and Forth) zeigt sie Szenen, in denen sich Körper, Oberflächen und Spiegelungen ergänzen. Dazu kommt noch der Betrachter, der sich selbst im Spiegel sieht. Ist das eine Form von Selbstporträt? Die Künstlerin zeigt sich nicht selbst, aber vielleicht in einer Projektion von Emotionen. Also eine Art «Selbstporträt der Empfindung», wie sie in einem Interview sagt.

 

Auch Skulpturen präsentiert die Künstlerin in Winterthur. Wie die blaue «Tromp-l'oeil-Matratze», auf die ein sexy BH und ein Slip gemalt sind. So echt, dass man die Wäsche förmlich liegen sieht. Wie sie das hingekriegt hat, ist ihr Geheimnis. Es sollen sich schon Besucher:innen auf das Bett gesetzt haben, weil sie es als Museumsmöbel verstanden.

 

 

Wer ist Louisa Gagliardi? Sie kam 1989 in Sitten zur Welt und arbeitet heute in Zürich. An der ECAL in Lausanne studierte sie Grafikdesign und besuchte auch die Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam.

 

Seit 2014 widmet sie sich als Vollzeit-Künstlerin der digitalen Malerei in ihrem eigenen Stil. In Lugano, Zürich, Brüssel, London und New York hatte sie bereits Ausstellungen. 2014 bekam sie den Swiss Design Award.

 

 

 

 

 

>Fotogalerie

 

 

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